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1. Rechtspsychologischer Fachtag zum Thema "Kriminalprognose im Familienrecht"

Zum ersten Mal überhaupt fand Ende des vergangenen Jahres der Rechtspsychologische Fachtag zum Thema "Kriminalprognose im Familienrecht" statt.

Die Jungmitgliedervertretung der Fachgruppe Rechtspsychologie hat im Frühjahr 2021 erstmals eine Kooperationsförderung für ihre Jungmitglieder ausgeschrieben. Das Ziel war die Förderung von Kooperationsprojekten zwischen Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Institutionen bzw. Praktiker:innen und Wissenschaftler:innen. Mit ihrem Projekt „Kriminalpsychologisch-sexualwissenschaftliche Begutachtung im Familienrecht: Wissenstransfer und Vernetzung zwischen rechtspsychologischen Sachverständigen im Familienrecht und Strafrecht“ erhielten Dr. Judith A. Iffland (ehemals Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) und Dr. Alexander F.  Schmidt (Johannes-Gutenberg-Universtität Mainz) die maximale Fördersumme von 750€ für die Organisation eines rechtspsychologischen Fachtags zum Thema „Kriminalprognose im Familienrecht“. Dieser Fachtag konnte am 02.12.2021 realisiert werden.

Bereits am ersten Tag der Veröffentlichung des Programmflyers wurde ein enormes Interesse seitens der Fachschaft erkennbar. Bis zum Ende der Anmeldefrist meldeten sich über 360 Teilnehmende für die kostenlose Veranstaltung an. Die Teilnehmenden waren Fachpsycholog:innen der Rechtspsychologie sowie Psycholog:innen anderer Schwerpunktbezeichnungen, aber auch Tätige aus dem Jugendhilfebereich, Studierende sowie juristisch tätige Personen. Im Vorfeld der Tagung wurde mit dem Fördergeld u.a. eine Lizenz für den Anbieter „LimeSurvey“ erworben. Damit wurde eine digitale Expert:innen Umfrage für diejenigen Teilnehmenden erstellt, die als Sachverständige für deutsche Gerichte tätig sind oder waren. Die Teilnahme bei der Umfrage bestätigte das große Interesse an der Thematik. Bis zum Fachtag lagen 163 vollständig ausgefüllte Fragebögen vor. Dies entspricht einer Rücklaufqoute von knapp 45% an der Gesamtzahl der registrierten Teilnehmenden, wobei der prozentuale Anteil bei den angemeldenten sachverständig tätigen Personen dementsprechend deutlich höher liegt.

Aufgrund der Pandemie fand der Fachtag online statt. Während der eintätigen Veranstaltung waren durchgehend zwischen 270 bis 300 Teilnehmende zugeschaltet. Nach einer Begrüßung durch die Organisatoren richtete sich der Direktor des Instituts für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie des UKE Prof. Peer Briken in einem Grußwort an die Zuhörerschaft. Anschließend leitete Frau Dr. Iffland in ihrem Vortrag „Kriminalprognose im Familienrecht – Ein Sachstandsbericht“ in das Thema ein. Sie thematisierte die Problematik der kriminalprognostischen Begutachtung bei bisher nicht einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getretenen männlichen Fürsorgeberechtigten im Auftrag des Familiengerichts und stellte erste Ergebnisse der Online-Befragung vor. Anschließend präsentierten Frau Dr. Bärbel Brah und Herr Dr. Alfred Maier vom Amtsgericht Winsen (Luhe) „Rechtliche Voraussetzungen einer Kindeswohlgefährdung gem. § 1666 BGB bei sexuellen Grenzverletzungen“. In dem juristischen Fachvortrag stellten die Vortragenden aktuelle Entscheidungen des BGH zu der Thematik vor. Sie betonten die Anwendung der „Je-desto-Formel“ bei der richterlichen Entscheidung über eine drohende Kindeswohlgefährdung aufgrund des Verdachts sexueller Grenzverletzungen. Anschließend zeigte sich die Diskussionsfreude der Zuhörerschaft, die noch in der anschließenden Pause weiter lebhaft mit den vortragenden Jurist:innen diskutierte. Aufgrund des kurzfristig krankheitsbedingt abgesagten Vortrags von Frau Natalie Oesterlein („Einsatz kriminalprognostischer Methoden in familienrechtlichen Gutachten – Ein Praxisbericht“) referierte im Anschluss Frau Prof. Corine de Ruiter von der Universität Maastricht über „Sexual abuse allegations in family law: How to act according to evidencebased practices“. In ihrem Fachvortrag sprach Frau Prof. de Ruiter über hoch konflikthafte Scheidungsfälle sowie die Bedeutsamkeit einer differenzierten und Einzelfall-orienterten Begutachtung von Missbrauchsvorwürfen in diesem Kontext. Zu der kontroversen Frage aus dem Auditorium nach der Zuständigkeit für kriminalprognostische Gefährdungseinschätzung im Familienrecht bezog die Referentin Stellung: Ihrer Ansicht nach könnten Gutachter:innen mit einer sowohl familiensystemischen als auch kriminalprognostischen Expertise derartige Einschätzungen am besten treffen, um das Familiensystem in der Gesamtheit auf etwaige Risikofaktoren zu untersuchen. Anschließend hielt Frau Prof. Dahlnym Yoon (Medical School Hamburg) einen Vortrag zum Thema „Risiko- und Schutzfaktoren für innerfamiliären Kindesmissbrauch“. Dabei diskutierte sie die Anwendbarkeit verschiedener Theorien zur Entstehung von Sexualdelinquenz auf innerfamiliären Kindesmissbrauch und stellte aktuelle Analysen zur Wiederverurteilung von intrafamiliären Missbrauchstätern vor. Anschließend wurde lebhaft und ausführlich diskutiert. Teilnehmende Sachverständige aus dem familienrechtlichen Bereich betonten u.a. multiple Viktimisierungen in den betroffenen Familien und warnten davor, den Fokus der potenziellen Kindeswohlgefährdung zu sehr auf die Gefährdung durch sexuellen Missbrauch zu setzen. Dr. Alexander F. Schmidt hielt den letzten Fachvortrag des Tages zum Thema „Nutzen und Grenzen indirekter Maße pädohebephiler sexueller Interessen im familienrechtlichen Kontext“, da Frau Dr. Safiye Tozdan ihren geplanten Vortrag zum Thema „Sexueller Kindesmissbrauch durch Frauen“ ebenfalls krankheitsbedingt absagen musste. Herr Dr. Schmidt stellte der Zuhörerschaft verschiedene indirekte Messverfahren zur Diagnostik sexueller Interessen vor und präsentierte das von ihm mit entwickelte Verfahren „EISIP“. Er diskutierte den Einsatz derartiger Methoden für die kriminalprognostische Begutachtung im Familienrecht. Dabei betonte er die Problematik der sehr schwachen Forschungslage für die Kriminalprognose von Ersttaten und multifaktorielle Ursachen für die Begehung von Sexualdelinquenz. Für die praktische Tätigkeit empfahl er die Kommunikation fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse ggü. dem Auftrag gebenden Gericht, um die Erwartungshaltung an Gefährlichkeitseinschätzungen durch kriminalprognostisch/familienrechtliche Sachverständige zu klären bzw. zu dämpfen. 

Das große Interesse der rechtspsychologischen Fachgemeinschaft an der Thematik „Gefährdungseinschätzung männlicher Fürsorgeberechtigter in familienrechtlichen Verfahren“ sowie die rege Teilnahme der Anwesenden am 02.12.2021 hat die Veranstaltung zu einem großen Erfolg gemacht. Das Ziel des Kooperationsprojekt der Organisatoren, Praktiker:innen und Wissenschaftler:innen aus den Bereichen Kriminalprognose und Familienrecht in einer gemeinsamen Veranstaltung zu vernetzen, ist gelungen. Der 1. rechtspsychologische Fachtag „Kriminalprognose im Familienrecht“ hat offenbart, dass die wissenschaftliche Grundlage derartiger Begutachtungsfragen sehr schmal ist und viele wichtige Impulse für die weitere Forschung eröffnet.

Organisator:innen Prof. Dr. Judith A. Iffland (MSH) und Dr. Alexander F. Schmidt (Universität Mainz)